Offener Brief


Beiträge von Lesern zu diesem Offenen Brief:
[Annette Bernjus]  


Taijiquan - Umweltbewußtsein - gewaltloser Widerstand

Ein altes chinesische Sprichwort warnt:
Wenn wir nicht die Richtung ändern, werden wir wahrscheinlich genau dort ankommen, worauf wir zusteuern.

Wenn wir die Richtung nicht ändern, gefährden wir wahrscheinlich alles Leben auf der Erde. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der zu viele Menschen leben und zu viel Armut herrscht. Wir erleben eine beschleunigte Klimaveränderung, wachsende Nahrungsmittel- und Energieknappheit, steigende Luftverschmutzung und einer Verunreinigung von Wasser und Böden durch Verkehr, Industrie und Landwirtschaft. Die Zerstörung der Ozonschicht schreitet permanent fort, die Artenvielfalt verringert sich täglich und der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre sinkt kontinuierlich. Riesige Waffenarsenale und ständig wachsende Bedrohung durch Super-GAUs bei Atomstromerzeugung und Atommüllentsorgung gefährden alles Leben auf diesem Planeten. Und die Gefahren einer industriellen Massentierproduktion und gentechnischen Landwirtschaft (z.B. gesundheitsschädliche Nahrungsmittelzusätze) sind jedem bekannt.
Der westliche Kapitalismus hat mit seiner Wachstumsphilosophie die Erde an den Rand eines ökologischen Kollaps gebracht. Erfolgt kein Richtungswechsel, steuern wir geradewegs auf unser Ende zu.
 
Taijiquan ist im Westen nicht zuletzt wegen seiner gesundheitsfördernden Wirkung bekannt geworden. Mit fortschreitender Taijiquan-Praxis ist eine Bewußtseinsentwicklung verknüpft, die bei der „Selbstheilung" eine wesentliche Rolle spielt, da sie dazu beiträgt die Spaltung von Körper (physische Gesundheit) und Geist (psychische Gesundheit) zu überwinden. Die Ausweitung dieses ganzheitlichen Gesundheits-Verständnisses von der individuellen Ebene auf die Umwelt (Gesellschaft und Natur), führt zu einem transpersonalen Bewußtseinszustand, in dem die Einheit von Innen und Außen, Individuum und Umwelt bewußt erlebt wird. Daraus resultiert eine Verantwortungsübernahme für die Auswirkungen des eigenen Verhaltens nicht nur auf die persönliche körperliche und geistige Verfassung, sondern auch auf den moralischen und sozialen Zustand der Gesellschaft und das Wohlbefinden unserer Erde, der Tiere und insgesamt unserer natürlichen Umwelt.
 
Viele Probleme unserer Umwelt zeigen interessante Analogien zu verbreiteten modernen Zivilisationskrankheiten:

  • Wohlstandssucht » Alkohol-, Drogen- u. Zigarettenmißbrauch
  • Verkehrsinfarkt » Herzinfarkt & Hirnschlag
  • Ressourcenvernichtung » Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Dauerhaftes Wirtschaftswachstum » Krebs
  • Globalisierung » Weltweite neue bakterielle und virale Infektionen
  • Industrielle Massen-Tierproduktion » BSE/CJK

Für mich stellen sich folgende Fragen:
  • Wie können wir als Taijiquan-Praktizierende aktiv werden, um auf die Gefahren, die unsere Erde bedrohen aufmerksam zu machen?
  • Was können wir konkret tun, um zu notwendigen Veränderungen im Denken und Handeln beizutragen?
  • Können wir dazu die Prinzipien des Taijiquan und des philosophischen Daoismus nutzen?

wei wu wei
Eine entsprechende Umweltethik könnte also bedeuten dem nätürlichen Ablauf der Dinge nicht zuwiderzuhandeln.
Die inneren Abläufe unserer Umwelt wahrnehmen und ihnen folgen, anstatt versuchen sie zu beherrschen und nach unserem Gutdünken zu manipulieren.
 
Verwurzelung
Wenn wir den bewußten Kontakt mit der uns tragenden Erde aufnehmen und die eigenen Wurzeln in der Erde spüren, verschwimmt die Grenze zwischen unserem Körper (das hautumschlossene Ich) und der Erde; wir können die Einheit mit der Erde spüren, unser gemeinsamer Schwerpunkt mit der Erde liegt sehr tief. Aus dieser Verwurzelung kann uns keine externe, isolierte Krafteinwirkung mehr trennen, da wir alle auf uns einwirkende Energie einfach an die Erde weiterleiten. Gleichzeitig können wir für unsere Aktivitäten die Energie der Erde nutzen, sofern wir mit ihr bewußt verbunden bleiben und keine egozentrischen Ziele verfolgen. Ehemals externe Einflüsse werden nun als innere und eigene Energien erlebt, und müssen damit nicht mehr abgewehrt werden, sofern die Quelle dieser Einflüsse ebenfalls mit der Erde verbunden ist. Dies trifft auf sämtliche "natürliche" und viele "soziale" Einflüsse zu. Energien, die dagegen aus (scheinbar) isolierten, vom Ganzen abgespaltenen Positionen unserer sozialen Umwelt auf uns einwirken (Yang), verlieren ihre Bedrohlichkeit, da sie uns nun nicht mehr aus dem Gleichgewicht werfen können, sondern von der größeren Einheit durch Absorption neutralisiert werden (Yin). Darüber hinaus zeigt die Erfahrung, daß zu einem späteren Zeitpunkt die absorbierte und gespeicherte Energie in einer spontanen Ausgleichsbewegung in Art einer Entladung (Yang) wieder an die ursprüngliche, isolierte Quelle abgegeben wird, sobald dort ein Energieunterschuß (Yin) seine Sogwirkung entfaltet.
 
Taijiquan nutzt die Energie des Angreifers und lenkt diese auf ihn zurück.
Dieses Prinzip kann sich der Verbraucher in einer Marktwirtschaft zunutze machen, indem er kosequent alle Produkte boykotiert, die nicht seinem Umweltbewusstsein entsprechen. Anstelle dessen kann er alternative Produkte und Dienstleistungen unterstützen. Mit zunehmender Ausbreitung dieser Bewußtseinsrevolution in breiten Bevölkerungsschichten, wird das veränderte Nachfrage- und Konsumverhalten, sowie die neuen ethischen Wertegrundlagen, die Gesellschaft in die gewünschte Richtung verändern.

Ich würde mich über Diskussionen und Austausch zu diesem Themenkreis freuen. Wer plant oder arbeitet an entsprechenden Projekten? Wie könnte eine Vernetzung stattfinden? Könnten öffentliche Veranstaltungen (Workshops, Seminare, Kongreß etc.) eine entsprechende Bewußtseinsentwicklung in breiteren Bevölkerungsschichten fördern?

Herzliche Grüße
Peter Wolfrum


"Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern" (Afrikanisches Sprichwort)

Hallo Peter,
schon öfters habe ich deinen "offenen Brief" gelesen. Hast du denn schon Reaktionen darauf bekommen?

Ich möchte dir heute einmal meine Gedanken dazu mitteilen.

Vor langer Zeit - als ich noch "jung" war, in den 80 er Jahren, war ich im Hüttendorf im Frankfurter Stadtwald zu Gange. Es ging damals um den Widerstand zur Erweiterung des Frankfurter Flughafens um die Startbahn West. Im Endeffekt wurde das Hüttendorf von der Polizei geräumt und die neue Startbahn gebaut. "Alles war für die Katz" - es war mir eine frühe Lehre: die Macht sitzt beim Geld und ein einzelner richtet nichts aus! Frustration! (nur am Rande bemerkt: der Ausbau des Flughafens geht immer weiter - trotz massiver Widerstände aus den umliegenden Gemeinden….).
Inzwischen bewohne ich keine Hüttendörfer mehr. Doch was tue ich denn eigentlich? Das frage ich mich schon des öfteren. Es sind ja auch nicht nur Umweltprobleme, die mich beschäftigen. Wo fängt man denn da an? Dann ist da auch noch der Alltag, der einen ziemlich in Beschlag nimmt.
An, ich nenne es mal "kleineren" Umweltprojekten in Kindergarten und Schule hatte ich immer viel Spaß und habe mich auch engagiert. Aber reicht das?
Was also können wir als Taiji-Praktizierende tun?

Es gibt inzwischen ernst zu nehmende Wissenschaftler (insb. der Quantenphysiker David Bohm), die das Universum als Hologramm verstehen. Gregg Braden schreibt in seinem Buch "Im Einklang mit der göttlichen Matrix": Im Hologramm des Bewusstseins, spiegelt sich jede kleine Veränderung überall in der Welt wider. (Seite 141)
Wenn dem so ist, können wir als Taiji-SpielerInnen doch einiges Bewirken!
In einer meiner letzten Taiji-Stunden entfachte ganz am Anfang eine Diskussion über Ernährung: mit oder ohne Fleisch, Massentierhaltung usw. usw. Ich ließ es "laufen". Ich hatte den Eindruck, es war an diesem Abend genau das, was die Teilnehmer brauchten. Wir liefen dann gerade noch 3 Mal die Pekingform und alle gingen trotzdem zufrieden nach Hause.
Ich veranstalte mit meinen MitspielerInnen öfters "Taiji-Stammtische". Dabei geht es um die theoretischen Hintergründe des Taijiquan, Taoismus, fünf Wandlungsphasen etc. Dabei bringe ich meistens ein bisschen Theorie mit Unterlagen ein, aber spätestens, wenn ich fertig bin, gibt es sehr interessante Gespräche, die oft auch richtig tief gehen. (Natürlich wird auch gegessen, getrunken und gealbert!)
Wir besuchen am 2.Mai den Chinesischen Garten in Frankfurt, der den Namen "Garten des Himmlischen Friedens" trägt in Andenken an die gewaltsame Räumung des Platzes gleichen Namens in Peking 1989. Ich werde meinen Leuten ein bisschen etwas darüber berichten und eine Gärtnerin wird uns die Pflanzen im Garten erläutern. Natürlich machen wir als Hauptsache Taijiquan - aber auch dies wird wieder ein bisschen unser Bewusstsein für die Vorgänge in dieser unseren Welt schärfen.

Weiterhin plane ich einen Wochenend-Workshop mit dem Thema "Fünf Wandlungsphasen". Womit könnte man besser den Kreislauf der Natur beschreiben als damit? Ich glaube, dass solche Veranstaltungen unbedingt dazu beitragen, bei den Teilnehmern ein "Natur"-Bewusstsein zu schaffen.
Und wenn die kleinen Veränderungen in uns sich im Großen spiegeln, so wird es sich auf das kollektive Bewusstsein unseres Universums auswirken. Vielleicht mag das im Angesicht der globalen Erwärmung o.ä. "lächerlich" klingen, aber ich glaube daran (und ich besetze eben keine Flughäfen mehr).
Als Idee ist mir gekommen, dass wir zu einem gemeinsamen "Qi Gong - Taiji - Laufen der fünf Wandlungsphasen" an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit aufrufen könnten. Einfach im Bewusstsein für eine gesündere Umwelt. (siehe oben: "viele kleine….)
Mit ist spontan der 5. Juli 2009 - unser Lehrertreffen eingefallen, da wir ja dann schon einige in Remscheid sind. Meine Taiji-Schüler würden hier in Lorsbach auf jeden Fall auch mitmachen.
Was hälfst du davon? Lass es dir einmal durch den Kopf gehen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein besseres Bewusstsein für diese Welt, für unsere Mitmenschen und für uns.

Alles Liebe
Annette